Bücher zwischen Büchern, Bedarf und Bedürfnis
Bei uns zu Hause isst man zwischen Büchern: Der Esstisch ist an zwei Seiten eingerahmt von raumhohen, prall gefüllten Bücherregalen. Bei jedem Umzug stöhnen wir, bei neu angeschafften Büchern müssen wir uns wegen Platzmangel von Büchern aus unserem Bestand trennen – ein schwieriger Prozess. Wir sind nicht die einzigen, die sich damit schwertun. Ein bisschen leichter wird der Abschied, wenn man die Bücher in ein öffentliches Bücherregal stellt und damit hofft, dass das Buch anderswo einen Platz in Herz und Haus findet. Öffentliche Bücherregale sind vielleicht das am besten funktionierende, selbstorganisierte Tausch-Arrangement im öffentlichen Raum.
Kleider machen Leute. Bücher auch? Novalis, Goethe, Eichendorff, Beauvoir, Fontane – Literaturklassiker schmücken die Regale und damit auch ihre Besitzer. Wir drücken aus, wie gebildet wir sind. Es wird angenommen, dass die klugen Inhalte der Bücher auch in unserem Kopf sind. Nun ja, auf einen Teil mag das zutreffen. Vieles ist allerdings vergessen. Dennoch können Bücher die Belesenheit ihrer Besitzer bezeugen. Aber auch bei anderen Literaturgattungen erfüllen Bücher ihren Zweck, indem sie nicht nur Ausdruck der Belesenheit, sondern auch Ausdruck der Persönlichkeit ihrer Besitzer sind: „Dein Bücherregal verrät dich“ – das soll es auch. Wie schön ist es, in anderen Wohnungen und Häusern die Bücherregale zu studieren und dabei einen Einblick in die Interessen und Biografie von Menschen zu erhalten – wie ein Blick ins Innere mit leicht geöffneter Tür. Wie ein Kind, das durch den Türschlitz zum Wohnzimmer abends einen Blick auf den Fernseher erhascht. Einer Freundin schrieb ich während ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung, dass sie ihrem Bücherregal nach ein Mensch wäre, den ich gerne kennenlernen würde, wenn wir nicht schon befreundet wären. Sie antwortete, das wäre das schönste Kompliment, das sie je bekam. Bücherregale also als Ausdruck der Biografie.
Bücher sind auch eine Brücke in die Vergangenheit. Wie andere Gegenstände auch, können wir mit ihnen Erinnerungen verbinden: an den Frankreich-Urlaub, den Deutsch-Leistungskurs, das Geschenk von einem Freund, bei dem man sich lange nicht gemeldet hat oder ein Buch, das man nur wegen der persönlichen, schönen Widmung behält. Auch deswegen fällt es uns schwer, uns von den Büchern zu trennen, obwohl wir die meisten von ihnen ziemlich sicher nicht wieder lesen werden.
Bücherwände können auch Ordnung ausstrahlen, jedenfalls wenn die Bücher nicht kreuz und quer reingestopft und gelegt sind, sondern sie aufrecht oder liegend in der Reihe stehen. Ikea sortiert die Bücher in den Ausstellungsräumen nach Farben und auch in Interior-Zeitschriften werden Bücher als gestalterisches Accessoire eingesetzt – die perfekte Farbe, Reihung, Größe. Ideal eingepasst in das Zimmer. Ein Teil des Raumes. Dekoration statt Notwendigkeit, sowie die Zimmerpflanze, das Bild an der Wand, die Duftkerzen auf dem Tisch. Bücher machen Atmosphäre. Es ist bedauerlich, wenn die fantastischen, vielfältigen Inhalte, die viele Bücher bieten, nicht gewürdigt werden und sie lediglich zum gestalterischen Accessoire verkommen. Aber glücklicherweise sind Bücher niedrigschwellig und der Inhalt der Bücher bleibt: Man kann jederzeit ein Buch herausnehmen, einen Bildband, Gedichtband, Roman oder Sachbuch, und eintauchen, auf eine Reise gehen in eine andere Welt. Das Bücherregal ist die Mauer, das Buch ist das Tor und die Worte sind der Schlüssel zur Reise. Einfach reingreifen und das Tor öffnen.