Social Design vs. Toilettenverordnung

„Cafés oder Imbissbuden in Ludwigshafen: Wer Sitzplätze hat, braucht jetzt auch Toiletten. Ludwigshafen setzt Regel jetzt durch“, heißt es am 09. Februar 2024 im SWR[1].

Hintergrund ist die rheinland-pfälzische Gaststättenverordnung, die seit 1971 relativ unverändert gilt. Sie schreibt eine oder zwei Toiletten (je nach Größe) vor. Politiker:innen äußern sich skeptisch, sie sorgen sich vor allem um die Betriebe - oft Imbisse und Bäckereien - die ohnehin wirtschaftlich zu kämpfen haben und sich einen Umbau oft finanziell oder räumlich nicht leisten können. Ich sorge mich um etwas anderes, ich sorge mich um den sozialen Zusammenhalt. Ich sorge mich darum, dass den Menschen etwas Wichtiges genommen wird: nämlich die Möglichkeit, sich dort zu treffen, sich hinzusetzen, sich auszutauschen, einen Kaffee zu trinken, eine Cola, ein Bier oder auch zwei. Einen Döner zu essen oder ein Stück Kuchen. Und dabei im Gespräch zu sein, unter Menschen, in Gesellschaft. Mit Menschen, die man sich ausgesucht hat, aber auch mit Menschen, die zufällig auch da sind. Der bewusste und unbewusste soziale Austausch, der durch das niedrigschwellige Angebot ermöglicht wird, zu konsumieren und sich bedienen zu lassen, ohne die Kosten eines Restaurantbesuchs auf sich nehmen zu müssen. Ein Kaffee im Café, ein Stück Kuchen und dazu ein Glas Wasser plus Trinkgeld - da kommt man schnell auf eine Rechnung von 12 €. Ein Essen im Restaurant kostet noch einmal deutlich mehr. Viele Menschen können sich das nicht oder nur selten leisten und haben dennoch das Bedürfnis, auszugehen. Für eine funktionierende Gesellschaft brauchen wir diese niederschwelligen Orte, die uns nicht viel abverlangen, die vielleicht auch ein bisschen „off the records“ geführt werden und nicht alle Anforderungen eines Gastronomiebetriebes erfüllen (können).

Durch ein Übermaß an Regelungen und Vorgaben zerstören wir kleine Betriebe und ihre Betreiber:innen, die von ihren Betrieben leben. Auch kleine Betriebe sind Existenzgrundlage für Menschen, die ohnehin nicht aus dem Vollen schöpfen können.

Wir verhindern auch, dass sich Menschen treffen und austauschen. Imbisse sind Orte, an denen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft, Nationalität, Einkommen etc. mischen: Den Zug verpasst, die Mittagspause außerhalb des Büros verbringen, vom Arzt kommen, telefonieren und dabei eine Cola trinken. Einfach mit einem Freund in der Sonne sitzen und Stadtatmosphäre konsumieren. Diese Mischung von Menschen ist notwendig, damit die Gesellschaft funktioniert. Auf diese Weise fühlen wir uns als Teil der Gesellschaft, lernen das Aushalten anderer Menschen, lauschen den Gesprächen am Nebentisch, die uns Einblicke in andere Lebenssituationen geben. Manchmal stellen wir fest, dass wir als Menschen ähnliche Bedürfnisse haben. Manchmal wundern wir uns über das Gegenteil. Manchmal geschieht das bewusst, manchmal unbewusst. Aber immer erleben wir uns.

In diesem Sinne sind Imbisse, Bäckereien, Zigaretten- und Zeitschriftenläden Orte der Begegnung, die vielen Menschen offen stehen und die Durchmischung fördern. Sie wirken als Social Design ebenso wie Regionalbahnen, städtische Bürgerbüros oder öffentliche Schwimmbäder. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser einfachen Konsumorte ist hoch und bevor wir blind die Gaststättenverordnung von 1971 durchsetzen, sollten wir die zu erwartenden Folgen bedenken - nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial. Oder kreative Umsetzungen entwickeln: Es ist schlicht unökonomisch, wenn jeder 25 Quadratmeter große Imbiss nebeneinander eigene Toiletten einbaut und unterhält. Wäre es nicht stattdessen denkbar, dass mehrere Imbisse gemeinsam eine öffentliche Toilette betreiben, an deren Unterhalt sie sich finanziell beteiligen? Diese öffentliche Toilette darf durch alle Bürger:innen kostenfrei benutzt werden, auch wenn sie nicht konsumieren. Damit wäre ein weiteres Problem der Städte gelöst: zu wenig öffentliche Toiletten, auf die bestimmte Personengruppen besonders angewiesen sind, z.B. Menschen, die mit kleinen Kindern unterwegs sind oder ältere Menschen (für die das geringe Angebot an öffentlichen Toiletten ein Hindernis sein kann, sich länger im öffentlichen Raum aufzuhalten - aber das ist Thema eines anderen Blogbeitrags). Also:

  • Setzen wir uns für alle Orte ein, die Durchmischung fördern.

  • Setzen wir uns ein für die kleinen Betriebe, die oftmals die Existenzgrundlage für ihre Betreiber:innen und deren Familien sind.

  • Setzen wir uns für kreative Auslegungen der Vorschriften ein (oder ändern wir die Vorschriften).

Wir schauen besser zu diesen Orten und Begegnungen anstelle der durchgestylten Hochglanz-Magazin-Orte. Denn hier ist das Leben.

[1] https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/ludwigshafen/imbiss-gaststaetten-toilette-verordnung-rlp-ludwigshafen-100.html Letzter Abruf: 24.02.2024.

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