Zerstörung
Über die Zerstörung dessen, was uns umgibt.
Vor meinem Haus entsteht ein Park. Seit Monaten wird dort gearbeitet und wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und aus dem Fenster schaue, kann ich jeden Tag die Menschen bei der Arbeit beobachten und staunen, wie viel Arbeit es ist, diesen Park anzulegen. Wie viele Arbeitsschritte, wie viele Maschinen, wie viele Arbeitsstunden. Angefangen hat alles vor einem Jahr, als wir aus dem Urlaub zurückkamen und die Wiese eingezäunt war. Dann wurden Sandberge aufgeschüttet, Bäume gepflanzt, Baumstützen gebaut, die Stämme weiß gestrichen, Holzpfähle um jeden Baum geschlagen, oben zusammengebunden und dann am Baum befestigt, damit er in den ersten Jahren sicher und aufrecht wachsen kann. Der letzte Schritt waren die „Söckchen“, grüne Plastiksäcke, die unten um den Stamm gelegt und noch mit Wasser gefüllt wurden. Neben den Bäumen wurden eine Tischtennisplatte und Sitzgelegenheiten aufgestellt, ein wassergebundener Boden wird aufgebracht - auch das: viele Einzelschritte, bis die letzte Schicht oben mit der Schaufel von Hand verteilt wird. Dann gibt es eine neue Wegebeleuchtung, Fahrradständer, Wasserleitungen. Die sichtbaren Arbeiten am Park - die ganze Planung dahinter sehe ich nicht - dauern nun schon 11 Monate. Die frisch gepflanzten Bäume zeigen schon die ersten zarten Blätter, die alten Kirschbäume am Rand stehen in voller Blüte, der neue Weg, der sich durch die Grünanlagen schlängelt, ist leuchtend rot und passt wunderbar zum zarten Rosa der Kirschblüten. Dazu gesellt sich oft das Rosa des Abendhimmels.
Und während ich das beobachte, zieht Russland sein Militär an die ukrainische Grenze und plötzlich #russiainvadesukraine. Russische Soldaten marschieren in die Ukraine ein und zerstören die Menschen und das, was sie geschaffen, produziert, aufgebaut, gepflegt, geliebt haben. Einfach so. Ich schaue aus dem Fenster und stelle mir vor: Hier marschiert das Militär ein und zerstört. Fährt die Straße entlang, bombardiert mein Haus, in dem wir mit mehreren Familien leben, bombardiert den Park, der gerade fertig wird und dem ich so viele Stunden beim Wachsen zugesehen habe - staunend, wie viel Arbeit darin steckt. Es macht mich sprachlos, dass das jetzt passiert: Dass die Ukrainer:innen erleben müssen, dass ihr Leben und alles, was sie dafür getan haben und immer noch tun, von einem Moment auf den anderen zerstört wird. Menschen, die sie lieben. Dass alles zählt nicht. Der einzelne Mensch zählt nicht, seine und ihre Leistung zählt nicht, alles, was sie in vielen Jahren und mit viel Arbeit aufgebaut haben, wird einfach zerstört. Neben unendlichem Mitgefühl und Trauer löst das ein Gefühl der Ohnmacht und des Vertrauensverlustes in das Leben aus - dass all das Schöne von einem Moment auf den anderen zerstört werden kann. Weil jemand anderes es will. Den Raum zu zerstören, den wir uns Tag für Tag als Lebensraum schaffen, den wir kennen und lieben, der uns Orientierung gibt. Das ist ein Gesicht des Terrors. Und selbst wenn Menschen diese Angriffe überleben - mit der Zerstörung des Raumes, in dem sie leben, wird auch ein Teil ihres Lebens zerstört. Raum ist von Menschen gemacht, er ist Ausdruck unseres Handelns, unserer Bedürfnisse, unserer Geschichte, unserer Kultur.
Angesichts von Terror, Zerstörung und Angst könnte ich resignieren. Aber wenn ich unter dem Kirschbaum stehe und sehe, wie er auch in diesem Jahr - unberührt von der weltpolitischen Lage - seine wunderschönen, rosa Blüten treibt, dann kommt mir trotz allem der Spruch in den Sinn: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“.
2022/03