Impfen im Supermarkt
Ein Gebäude kann als Massivbau oder als Skelettbau errichtet werden. Bei der Skelettbauweise besteht das Gebäude aus einem Skelett (Tragwerk) und einer Hülle (Fassade und Dach). Um es mit den Worten des Architekten Reinier de Graaf zu sagen: “Four walls and a roof”. Innerhalb dieser vier Wände und des Daches ist vieles möglich. Ein Beispiel dafür sind Impfzentren.
In den USA (so habe ich gelesen) wurden während der Corona-Pandemie viele Menschen beim Einkaufen im Supermarkt geimpft. Diese Verbindung von Konsum und medizinischer Versorgung hat mich erstaunt und ich fand es unglaublich pragmatisch. Jeder geht einkaufen. Diese Hürde, irgendwo anzurufen, einen Termin zu vereinbaren, hinzufahren - das fällt einfach weg. Man steht im Supermarkt, sieht das Angebot und denkt: Warum nicht? Zack, pieks, geimpft. Und ab zur Kasse.
Den Ort „Supermarkt“ als Ressource nutzen, wo viele Menschen sowieso hingehen. Und damit eine Grenze auflösen zwischen Orten der Behandlung und Orten der Selbstversorgung. Damit wird nicht nur eine funktionale, sondern auch eine mentale Grenze geöffnet. Das Beispiel zeigt, dass wir neue Lösungen finden, wenn wir räumliche Grenzen aufbrechen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir die Grenzen im Kopf auflösen. Funktion ist Anlass für Raum und Raum ist Ausdruck von Funktion. Aber das ist eine Verbindung auf Zeit. Sobald sich Umstände, Bedürfnisse und Anforderungen ändern, sollte der gebaute Raum die Flexibilität haben, auch anderen Funktionen zu dienen.
Und am Beispiel der kurzfristig benötigten Impfzentren konnte man die Flexibilität von Räumen wunderbar sehen: Innerhalb kürzester Zeit wurden Bars, Hotellobbys, Sport-, Veranstaltungs- und Messehallen zu Impf- und Testzentren umfunktioniert. Offene Raumstrukturen und mobile Trennwände machten es möglich.
Ein schönes Beispiel für die notwendige Flexibilität und Anpassung an aktuelle Bedürfnisse ist das Gebäude eines ehemaligen amerikanischen Supermarktes im Patrick-Henry-Village in Heidelberg. Der Supermarkt ist ein Relikt der amerikanischen Besatzungsmacht, die in der Nachkriegszeit in Patrick-Henry-Village Wohngebiete mit Versorgungseinrichtungen für die amerikanischen Soldaten und ihre Familien errichtete. Das Supermarktgebäude hat bis heute keine dauerhafte Nachnutzung erfahren, erlebte aber während der Pandemie eine kleine “Nutzungsrenaissance”, als dort die zentrale Impfstelle des Rhein-Neckar-Kreises eingerichtet wurde. In diesem Impfzentrum waren die Spuren des ehemaligen amerikanischen Supermarktes allgegenwärtig und machten deutlich, wie sehr Supermarktarchitektur nur eine (dekorierte oder ausgestattete) Hülle ist. Noch drei Jahre zuvor hatte in den Räumen eine Kunstausstellung stattgefunden. Auch diese Spuren sind noch sichtbar: Nähert man sich dem Gebäude, sieht man großflächig aufgesprühte Bananen, Pepsi-Werbung, Preisangaben. Scheinbar zumindest. (Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass nicht „Pepsi“, sondern „Spirit“ drauf steht, und nicht ein Preis, sondern „20.19“ - das Jahr der Kunstaktion.)
Und so kann ein einfaches, architektonisch anspruchsloses Gebäude ein Beispiel dafür sein, dass wir auch in Deutschland im Supermarkt impfen können, dass sichtbare Spuren am Gebäude Hinweise auf seine Biografie sind und dass Gebäude mit ihren “four walls and a roof” auch ohne hohen gestalterischen Anspruch unterschiedlichen Zwecken dienen können. Flexibilität ist alles - im Gebäude und im Kopf!