Bibliotheken - die neuen Wohnzimmer der Stadt

Blick aus dem Inneren der Deichman Bibliothek in Oslo auf den Fjord

Ich bin bibliophil. Ich liebe es, Bücher zu lesen, sie anzuschauen, in sie einzutauchen. Ganz besonders liebe ich Bibliotheken als Orte, an denen dieses Angebot reichlich vorhanden ist. Aber die Bedeutung von Bibliotheken geht heute weit über das Angebot von Büchern hinaus - sie sind vielmehr die neuen Wohnzimmer der Stadt, Orte der Kreativität und der Begegnung. Sie sind damit hochgradig soziale Orte. Drei Beispiele aus Groningen, Aarhus und Oslo.

Für mich repräsentieren Bibliotheken einige wichtige Punkte einer idealen Gesellschaft: Wissen ist im Überfluss vorhanden und wird geteilt, ebenso wie sein physisches oder digitales Gegenstück, Bibliotheken vermeiden durch das Prinzip des “Besitzes auf Zeit” materiellen und digitalen Überfluss, und allein durch das Verweilen in und das Bewegen durch Bibliotheken können Menschen inspiriert werden. Durch die Regalreihen schlendern, in den Büchern zum “Thema des Monats” blättern (oder auch nur das Cover betrachten), sich inspirieren lassen - sie sind wie ein Marktplatz, auf dem man die angebotenen Dinge einfach auf sich wirken lässt.  Die Bandbreite der Themen und Formate ist riesig, die Hemmschwelle, etwas auszuleihen, gering. Ich zahle einen wirklich überschaubaren Jahresbeitrag (oder je nach Lebenssituation auch gar keinen) und kann dafür fast unbegrenzt Medien ausleihen. Es macht finanziell keinen Unterschied, ob ich zwei, fünf oder 20 Medien in meinen Warenkorb lege. So landen Handlettering, ein Kunstband über Marc Chagall, Eigentum von Wolf Haas, Genderleicht, Mit Kürbis backen und SOS Pubertät in meinem blauen Ausleihkorb. Das Angebot ist riesig.

Auch wenn ich meist eine eher klassische Nutzerin der Bibliotheksangebote bin, sind Bibliotheken heute viel mehr als Medienbereitsteller und “Kathedralen des Wissens”. Bibliotheken sind Gleichmacher im positiven Sinne, sie sind hochgradig soziale Orte. Längst geht es in Bibliotheken nicht mehr nur um die Ausleihe von Medien. Sie sind - nach den Schulen - die meistbesuchte Kultur- und Bildungseinrichtung. Und obwohl die Ausleihzahlen rückläufig sind, ist die Verweildauer stark gestiegen. Das liegt auch an dem veränderten Angebot, das moderne Bibliotheken heute bieten. Die Anforderungen an Stadt- und Gemeindebibliotheken haben sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht und Bibliotheken sind, so die Innenarchitektin Elena Janzen, “die neuen Wohnzimmer der Stadt” (DAB 10-24, S. 29).

Angebote für alle

Das wurde mir zum ersten Mal klar, als ich in Aarhus im DOKK1 stand: Ja, hier gibt es Bücher, aber: Es gibt - neben der fantastischen Architektur - noch viel mehr: Bürgerservice, Indoor-Spielbereiche, Küchen, Arbeitsplätze, Sofas ... Es war ein gleichmäßiges Summen von Aktivität, ohne dass einzelne Stimmen oder Aktivitäten herausstachen. Das Gebäude, das Kulturhaus und Nationalbibliothek vereint, hat den Anspruch, für alle etwas zu bieten.

Ein ähnliches Erlebnis bietet das Groninger Forum: Auf elf Ebenen sind ab 2019 die Funktionen Kino, Bibliothek, Auditorium, Comicmuseum, MediaLab und SmartLab, Touristeninformation in einem Gebäude vereint. Der massive Bau steht repräsentativ und gut erreichbar im Zentrum Groningens und soll als neuer Treffpunkt der Stadtgesellschaft fungieren. Die allgemein zugängliche Dachterrasse bietet einen beeindruckenden Blick über die Stadt. Auf der Dachterrasse stehend, mitten in der Stadt, hat man gleichzeitig den Überblick und das Gefühl der Verbundenheit mit dem Treiben in der Stadt.

Das Foyer im Forum in Groningen bietet Ausblick, Einblick und vielfältige Verweil- und Beschäftigungsmöglichkeiten.

Im Bienenstock: Raumerlebnis Deichman Bibliothek

Die Deichman-Bibliothek in Oslo versteht sich als Ort, an dem Ideen entstehen. Hier wurde der Raum der Bücher zum Raum der Möglichkeiten.

“The most important tool is you and your ideas”, steht auf einer erklärenden Tafel im Inneren des Gebäudes. Für diese Ideen gibt es eine Vielzahl von Angeboten: Werkstätten (“Makerspaces”) mit 3D-Druckern, Nähmaschinen, Lasercuttern, Tonstudios. Dazu ein Familienkino, Kunstinstallationen, ein Restaurant, Leseecken, Schreibtische, runde Tische, ein Foyer, Spielbereiche für Kleinkinder, ein Gaming-Bereich, die Möglichkeit, Musikinstrumente auszuleihen. Und dazwischen: Bücher [Highlight für die Montessori-nahe Innenarchitektin in mir: ein Bücherregal, in dem die Bücher nach Farben sortiert sind!] Veranstaltungsräume, in denen jährlich fast 8.000 Veranstaltungen stattfinden.

Ganz klar ein Ort der Vermittlung: Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen meinen Ideen im Kopf und dem, was ich wahr werden lasse, zwischen Jung und Alt, zwischen Innen (Räumen) und Außen (Stadt). Schon von außen fällt das Gebäude durch seine markante Architektur auf - Markanz (Achtung: Neologismus) ist übrigens ein Merkmal, das auch auf die Beispiele in Aarhus und Groningen zutrifft. In Oslo erinnert das Gebäude an ein aufgeschlagenes Buch, der obere Teil des Gebäudes ragt in die Mitte der Straße und drückt damit sowohl ein symbolisches Dach über dem Eingang als auch die einladende Geste eines offenen Armes aus.

Im Inneren herrscht ein gleichmäßiges Treiben wie in einem Bienenstock. Die Wabenstruktur an der Decke, der polygonale Grundriss des Gebäudes, die Rolltreppen, die nicht rechtwinklig zueinander die einzelnen Ebenen erschließen, die durchgehende Perspektive von unten bis zum Dach und an den Seiten die unterschiedlichen Nutzungen - all das eröffnet sich, sobald man das Gebäude betritt. Man fühlt sich ein wenig wie in einer Kapsel, die ab und zu den Blick nach draußen freigibt. Überall sitzen Menschen, manche unterhalten sich, andere arbeiten am Computer. Viele haben Kopfhörer auf. Manche lesen auf ihrem Handy oder schmökern in Büchern, andere arbeiten oder spielen Schach. Es gibt eine unglaubliche Fülle an Angeboten und Sitzmöglichkeiten mit Stühlen, Tischen, Treppen, Ecken, Sofas, Foren. Vereinzelt sind Kunstwerke im Raum, Bildschirme mit Informationen oder Animationen. In einer Nische, die wie ein Bibliothekarszimmer um 1900 eingerichtet ist, sitzt eine junge Frau mit ihrem MacBook hinter Karteischränken aus dunkel lasiertem Holz.

In dieser Raumkapsel verliert man das Gefühl für Raum und Zeit, gewinnt aber ein kommerzfreies Erlebnis mit sich selbst inmitten von Menschen. Alle scheinen sich wohl zu fühlen. Niemand ist hektisch. Obwohl so viele Menschen hier sind, ist es ein gleichmäßiges Summen, in dem keine Stimme und kein Geräusch hervorsticht und eine kontemplative Geschäftigkeit herrscht.

Möglichkeitsraum.
Kontemplative Geschäftigkeit.
Lesen. Arbeiten. Spielen.
Ein Ort der Vielfalt.
Kaleidoskop.

Wohnzimmer für Demokratie

Das Buch ist heute oft nur noch der Aufhänger für viele andere Funktionen. Es gibt immer weniger öffentliche, nicht kommerziell nutzbare Innenräume - hier müssen wir verstärkt darauf achten, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft in diesen öffentlichen Räumen neue Orte finden. Ein entsprechendes Raumangebot stärkt selbstorganisierte Strukturen und Zusammenschlüsse und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wie es die Heinrich-Böll-Stiftung in ihrem Projekt zu öffentlichen Räumen formuliert: “Demokratie hat einen Ort und das ist der öffentliche Raum!”. Wenn also öffentliche Räume für alle Menschen nutzbar sind und ihren Grundbedürfnissen entsprechen, dann wirken sie positiv auf den Zusammenhalt der Menschen.

Deshalb: Rettet die Bibliotheken, stattet sie gut aus, stärkt sie weiter als Orte der Begegnung, des Wissens, der Kreativität - ohne Kommerz, ohne Religion. Bietet Vielfalt, Konzentration, Ruhe, Begegnung, Anregung, Raum. Lasst sie weiterhin ein Ort der Gemeinschaft sein, an dem Wissen bewahrt und geteilt wird. Ein Marktplatz des Austausches auf verschiedenen Ebenen.

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Tasche, Tasse, Ring - die Geschichte der Frauen in Objekten

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Gewohnheit und Gestaltung