Tasche, Tasse, Ring - die Geschichte der Frauen in Objekten

Annabelle Hirsch: Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten. (Taschenbuchausgabe)

In ihrem Buch Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten erzählt Annabelle Hirsch die Geschichte der Frauen auf ungewöhnliche Weise: durch die Dinge, die ihren Alltag, ihre Träume und Kämpfe prägten. Von alltäglichen Gegenständen wie der Nähnadel bis hin zu künstlerischen Manifesten wie „The Fountain“ reicht die Sammlung – und zeigt, wie Frauen über Jahrhunderte hinweg Räume und Freiheiten für sich eroberten. Welche Rolle dabei eine Kleidertasche, ein Pissoir und eine Gesellschaftsutopie spielten und was das alles mit der Architektur unserer Gegenwart zu tun hat, erfährst du in meiner Rezension.

Einleitung: Das Buch im Überblick

Das Buch “Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten” wurde von der Autorin Annabelle Hirsch geschrieben und ist 2022 im Verlag Kein & Aber, Zürich-Berlin, erschienen. Es handelt sich um ein über 400 Seiten umfassendes Sachbuch, das anhand von 100 Objekten die Geschichte der Frauen erzählt. In 100 Beiträgen wird jeweils ein Objekt mit Bild und Text vorgestellt und seine Bedeutung für die Frauengeschichte beschrieben. Optisch ist die Taschenbuchausgabe von 2023 schon deshalb ein Highlight, weil die pinke Schrift auf dem orangefarbenen Umschlag und der dreiseitige Pink-Schnitt bereits feminines Selbstbewusstsein und Sichtbarkeit ausdrücken.

Warum habe ich dieses Buch gekauft? Als Architektin und jemand, der sich für die Verbindungen zwischen Mensch und Raum interessiert, war ich sofort neugierig darauf, wie die Geschichte der Frauen durch Objekte erzählt werden könnte. Ich wurde nicht enttäuscht!

Objekte und die Geschichte der Frauen

Jeder Beitrag beginnt mit einer einseitigen Abbildung des Objekts und etwa drei Seiten Text. Die Beiträge sind chronologisch nach Entstehungszeit der Objekte geordnet. Oft sind es unscheinbare Alltagsgegenstände wie eine Nadel, eine Schere oder ein Teppichklopfer. Manchmal handelt es sich um eher unbekannte Objekte, wie zum Beispiel einen Klebezettel der Widerstandsgruppe “Rote Kapelle”, manchmal um bekannte Dinge, wie die Anti-Baby-Pille. Das älteste Objekt ist ein Oberschenkelknochen aus der Zeit um 30.000 v. Chr., das jüngste der Pussy-Hut aus dem Jahr 2017. Die genaue Einordnung und Interpretation durch die Autorin rückt die Objekte in ein neues Licht und lässt ihren Wert in der Geschichte der Frauen erkennen. Das Buch ist vor allem eine Geschichte der Emanzipation - wie Frauen sich gegenseitig unterstützen, wie sie sich (immer wieder) aus dem Korsett der ihnen zugeschriebenen Rollen befreien und um Autonomie und Mündigkeit kämpfen.

Der Zusammenhang von Objekten und Raum

In den zusammengestellten 100 Objekten lässt sich die Geschichte der Frauen vielfach in Haushaltsgegenständen beschreiben: Schere, Hutnadel, Staubsauger. Aber auch Objekte, die Sexualität, berufliche Selbstständigkeit, Kunst oder Schönheit, Unterdrückung und Freiraum ausdrücken, ziehen sich als roter Faden durch die Jahrtausende, ebenso wie die Tatsache, dass den Frauen schon immer die Care-Aufgaben zugedacht wurden. Die meisten Gegenstände sind klein, mobil, leicht transportierbar (ideell oder physisch). Es geht nicht um technologische Errungenschaften, sondern um das, was die Objekte für das Leben der Frauen zu ihrer Zeit bedeuten. Krieg war oft eine Situation, in der sich im Leben von Frauen viel verändert hat und sie unabhängig werden mussten/durften. Leider wurde ihnen diese Unabhängigkeit oftmals wieder aberkannt, sobald die Männer zurückkamen und ihre alten Rollen einnahmen. Selbstständigkeit ist als zentrales Kriterium: Geld verdienen, um unabhängig zu sein. Ich mag die Ideen, bei denen die Geschäftstüchtigkeit der Frauen sichtbar wird und die Haushalts- und Carethemen durch Netzwerk, Kreativität und Mut eine eigenes Geschäft entstehen lassen, z.B. die “Tupper-Partys” (1950er Jahre), der “Wonderful Hair Grower” (1906) oder die Fox-Sisters mit ihren Planchettes (1853), mit denen sie als spirituelle Medien durch das Land fuhren. Denn: Medium-Sein war weiblich und im Gegensatz zu den Weltreligionen ist es der Spiritismus, der die Ära der Frau eingeläutet hat.

Was haben die Objekte mit Architektur zu tun? 

Die Unabhängigkeit von Räumen! Oft geht es darum, durch eine Idee die Unabhängigkeit von Ernährer (=Mann) und Ort zu erreichen, beispielsweise durch eine Schreibmaschine, ein Fahrrad oder ein Auto. Manchmal ist das physische Objekt auch nur der Träger, so wie die LP von Aretha Franklin mit dem Lied “Respect”. Eigentlich geht es um den Inhalt des Songtextes, aber dieser braucht - neben der Stimme der Sängerin - die Schallplatte als (Ton-)Träger. Also: ohne Materie geht es nicht. Diese Objekte haben nicht nur Räume, sondern auch Lebensräume für Frauen eröffnet und ihnen eine neue Freiheit innerhalb ihrer Welt und darüber hinaus ermöglicht.

“Phalanstère” als Beispiel für ein neues Gesellschaftsmodell von Charles Fourier, das eine eigene Architektur braucht (Seite 165).

Objekte als “Raumeroberer”

Hier möchte ich drei Beispiele aus dem Buch nennen, bei denen die Beziehung besonders stark und fast unmittelbar am physischen Element ablesbar ist. 

1. Die Kleidertasche, 17. Jahrhundert. 

In diesem Fall ist es ein kleines Objekt, das einen großen Unterschied macht und mit dem man (Frau) leicht einen Bezug zur Gegenwart herstellen kann. Wer schon einmal in Leggings, Rock oder Kleid unterwegs war, weiß: Was keine Taschen hat, nervt. Taschen sind Freiheit. Wer jemals mit einer Clutch unter dem Arm unterwegs war, kennt das leichte Panikgefühl, die Tasche abzusetzen, aus Angst, sie zu vergessen. Im Buch wird beschrieben, dass ab dem späten 17. Jahrhundert (davor hatten sowohl Männer als auch Frauen separate Beutel) Hosen- und Hemdtaschen Einzug hielten - aber nur in der Männermode. Frauen behalfen sich fortan mit einer Kleidertasche in Form eines birnenförmigen Stoffbeutels, in dem sie alles Mögliche verstauten - von der Nähnadel über Münzen bis hin zu Liebesbriefen oder einem Revolver zur Selbstverteidigung. Eine wahre Schatztruhe. Und auch wenn sich die Gegenstände geändert haben, ein bisschen ist es bis heute geblieben - die Tasche ist immer noch Schatztruhe, Tresor, Ausdruck des Geschmacks und Medium der Freiheit.

Die Kleidertasche war nicht nur ein praktischer Gegenstand, sondern ein stiller Begleiter, der Frauen ein Stück Unabhängigkeit ermöglichte.

2. “The Fountain”, 1917

Bei diesem Objekt geht es um Kunst und darum, wie Frauen mit ihren künstlerischen Werken Aufmerksamkeit erregen und Diskussionen in der Kunstwelt beeinflussen. Bei “The Fountain” handelt es sich um ein gewöhnliches Pissoir, das als Kunstwerk im neuen Salon der American Society of Independent Artists eingereicht wurde und aufgrund auf seines offensichtlichen Alltagsbezugs eine hitzige Diskussion darüber auslöste, was Kunst ist. Bis heute ist nicht geklärt, ob das Werk von Marcel Duchamp oder von Elsa von Freytag-Loringhoven stammt - und genau das ist der interessante Teil: Wäre die Geschichte der Frauen und ihrer Stellung in der Kunstgeschichte anders verlaufen, wenn man von Anfang an von einer weiblichen Autorschaft dieses Kunstobjekts ausgegangen wäre?

The Fountain ist ein symbolisches Beispiel dafür, wie Frauen die Kunstwelt herausforderten und mitgestalteten.

3. Architektur- und Lebensmodell Phalanstère, um 1840

Das dritte Beispiel hat einen starken architektonischen Bezug. Es handelt sich um die Gesellschaftsutopie von Charles Fourier, der seine Gesellschaftsutopie im Bau einer komprimierten Kleinstadt sah. Sein Konzept sah eine Revolution der Lebens- und Liebesformen vor und versprach mehr Vielfalt in den zwischenmenschlichen Beziehungen, sozialen Rollen und beruflichen Tätigkeiten. Die damals gängigen Vorstellungen von der Rolle der Frau waren damit obsolet. Das Ganze sollte in einer Art überdimensioniertem Versailles stattfinden. Auch wenn es nicht dazu kam: Schön ist der Ansatz, dass neue Gesellschaftsformen eine eigene Architektur brauchen. Wie der eher konservative Architekturvorschlag dieses neue, utopische Gesellschaftsmodell unterstützen soll, bleibt leider offen.

Fazit

Das Buch ist großartig. Während ich sonst oft sehr von Book Blurbs genervt bin, stimme ich in diesem Fall allen Aussagen zu: Die Sammlung ist eine Schatzkammer, ein “Kuriositätenkabinett” und man sollte direkt mehrere Exemplare kaufen - eines für sich und weitere zum Verschenken. Neben der kurzweiligen und abwechslungsreichen Auswahl und den Hintergründen zur Frauenemanzipation ist es auch ein gelungenes Werk zur Erweiterung des historischen Allgemeinwissens.

Zum Weiterdenken 

Zum Weiterdenken aus meiner Sicht als Architektin: Wie wäre es mit einem Buch “Die Häuser. Eine Geschichte der Frauen in 100 Gebäuden"? Welche Frauen und welche Gebäude würden wir benennen? Wann würde die Geschichte beginnen? Und was wäre das Besondere an dieser Frau-Raum-Beziehung? Aber das ist eine andere Geschichte.

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